FREIHEIT BEDEUTET, MAN SELBST SEIN ZU KÖNNEN: TAHAS GESCHICHTE
DIE REISE EINES JUNGEN FLÜCHTLINGS
Ein 12-jähriger Junge geht eine Straße in Gaza entlang. Um auf dem Weg zu seinen Freunden nicht über Steine zu stolpern, benutzt er vorsichtig eine Gehhilfe. Er strahlt Zuversicht und Entschlossenheit aus, angetrieben von der neu gewonnenen Unabhängigkeit, die ihm seine Gehhilfe verleiht. Noch vor ein paar Jahren wäre Taha, ein junger palästinensischer Flüchtling, nicht in der Lage gewesen, sein Haus zu verlassen. Auf seinen Rollstuhl angewiesen, konnte er unmöglich ohne fremde Hilfe durch die zerstörten Straßen fahren. Doch jetzt macht er sich selbst auf den Weg, um seine Freunde zu treffen - ihre Spiele sind eine willkommene Abwechslung zu den jüngsten Konflikten, die Gaza erschüttert haben.
Taha wurde mit Spina bifida geboren, einer Wirbelsäulenerkrankung, die ein Leben ohne Gehhilfen meist unmöglich macht. Im Gazastreifen gibt es nur wenige medizinische Einrichtungen, und obwohl sie ihm helfen konnten, die schlimmsten Folgen der Krankheit zu vermeiden, brauchte er einen Rollstuhl, um mobil zu sein. Es ist schon schwer genug, sich in einer normalen Stadt mit einer Gehhilfe fortzubewegen, aber zahlreiche Luftangriffe und Sanktionsmaßnahmen bedeuten, dass die bröckelnde Infrastruktur des Gazastreifens für Rollstuhlfahrer fast völlig unzugänglich geworden ist.
Etwa 2,1 % der Bevölkerung des Gazastreifens leidet unter körperlichen oder mentalen Behinderungen, von welchen die meisten Formen mit Mobilitätseinschränkung einhergehen. Für geflüchtete Kinder wie Taha führt der Mangel an Mobilität zu sozialer Isolation und einem erschwerten Zugang zu Bildung. Dies führt zu geringerem Selbstvertrauen, Gefühlen der Hilflosigkeit und schlechter psychischen Gesundheit. Hinzu kommen die ohnehin schon hohen psychischen und emotionalen Risiken, denen alle geflüchteten Kinder ausgesetzt sind, so dass geflüchtete Kinder mit Behinderungen zu den am meist benachteiligten Kindern der Welt gehören.
"ICH FÜHLE MICH FREI. ICH KANN LAUFEN, SPIELEN UND ZUR SCHULE GEHEN. ICH KANN TUN, WAS ICH WILL." - TAHA, 12
KÄMPFEN, UM WEITERZUMACHEN
Taha weiß wie es ist, sich diesen Herausforderungen zu stellen. Als kleiner Junge ermutigten ihn seine Eltern, zur Schule zu gehen, doch als er 10 Jahre alt wurde, ließ seine Motivation, weiterzumachen, immer stärker nach. Die Herausforderung war zu groß, immer auf seine Eltern angewiesen zu sein. Die zerstörten Straßen zur Schule konnte er alleine nicht überqueren und am Ende des Tages musste er immer darauf warten, dass jemand kam und ihm nach Hause half, während die anderen Kinder zum Spielen gingen.
Noch schlimmer war, dass er wegen seiner Andersartigkeit gemobbt wurde, was ebenfalls seinen Lebensmut und seine Motivation zum Weitermachen bremste. Taha schätzte seine Unabhängigkeit, denn es schien, als ob alles um ihn herum versuchte, sie ihm zu nehmen. Bei der ersten Gelegenheit, die sich ihm bot, beschloss er daher, nicht mehr zur Schule zu gehen.
Zwischen dem 10. und 11. Lebensjahr unterzog sich Taha zahlreichen Operationen. Er nutzte die Gelegenheit, um nicht mehr zur Schule zu gehen, und verließ sein Haus nur noch selten, um sich in Kliniken und Krankenhäusern behandeln zu lassen. Die Operationen verliefen gut, aber Tahas geistiger Zustand verschlechterte sich mit zunehmender Isolation und dem Gefühl der Hilflosigkeit.
HEILUNG VON KÖRPER UND GEIST
Sich von der Operation zu erholen, war eine Herausforderung, aber die seelischen Wunden seiner erzwungenen Hilflosigkeit waren am schwersten zu behandeln. Taha begann eine Physiotherapie bei einem der lokalen Partner von Right To Play in Gaza, und es war sein Physiotherapeut, der ihn überzeugte, an spielbasierten Programmaktivitäten teilzunehmen.
Right To Play unterstützt Kinder mit Behinderungen in Gaza durch das Programm "Enhancing Quality and Inclusive Education" (EQIE). Für Kinder wie Taha bietet das Programm Möglichkeiten, ihre körperlichen Fähigkeiten zu verbessern, ihre Fähigkeit zu stärken, mit Gefühlen der Hilflosigkeit umzugehen, und ihnen den Zugang zu Bildung zu ermöglichen. Der Kern des Programms kombiniert psychosoziale Unterstützung mit aktivem Lernen durch die Kraft des Spiels.
"ICH MÖCHTE IN BEWEGUNG BLEIBEN. ICH KANN OHNE HINDERNISSE MIT MEINEN FREUNDEN SPIELEN, UND ICH KANN DIE TREPPE RAUF UND RUNTER GEHEN, UND DAS IST ETWAS, WAS ICH NOCH NIE GEMACHT HABE." TAHA, 12
Für Taha bedeutete dies, dass er mit Spielen und Übungen seine Physiotherapie unterstützte und sein Selbstvertrauen und seine Handlungsfähigkeit stärkte. Er lernte, sich mit einer Gehhilfe fortzubewegen, was ihm eine nie dagewesene Unabhängigkeit verschaffte. "Ich fühle mich frei. Ich kann laufen, spielen und zur Schule gehen. Ich kann tun, was ich will", sagt er über das Gefühl, das ihm seine Gehhilfe gibt.
Der gleiche Motivationsschub, der ihm geholfen hatte, den schwierigen Prozess des Laufenlernens zu bewältigen, gab ihm auch die Kraft, wieder zur Schule zu gehen. Mit der Unterstützung des EQIE-Programms stürzte er sich in seine Studien und war zum ersten Mal begeistert von der Schule. Wo er sich früher davor gefürchtet hatte, seine Mutter oder seinen Vater zu bitten, seinen Rollstuhl über Hindernisse auf der Straße zu schieben, konnte er dies nun selbst tun.
"ICH BIN SEHR GLÜCKLICH, DASS MEIN SOHN SEIN SELBSTVERTRAUEN ZURÜCKGEWONNEN HAT... SIE KÖNNEN SICH GAR NICHT VORSTELLEN, WIE GLÜCKLICH ER IST, SEITDEM ER WIEDER IN DER SCHULE IST UND SELBSTSTÄNDIG ARBEITEN KANN." - MAHMMOUD, TAHAS VATER
Die Rückkehr in die Schule bedeutete auch, neue Freunde zu finden. Taha hatte sich aufgrund seiner Andersartigkeit ausgegrenzt gefühlt, aber sein neues Selbstwertgefühl und der Glaube an seinen Selbstwert führten dazu, dass er immer häufiger mit anderen Kindern aus seinem Viertel in Kontakt kam. Schnell fand er neue Freunde, und wo er früher Angst hatte, sein Haus zu verlassen, geht er heute mit ihnen spielen, wann immer er kann.
Tahas neue Unabhängigkeit hat einen weiteren wichtigen Vorteil. Im Gazastreifen kommt es immer wieder zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Israel und der HAMAS. Aufgrund seiner eingeschränkten Mobilität ist es besonders schwierig, sich durch das Chaos von Luftangriffen und Artilleriebeschuss in Sicherheit zu bringen. Wenn Familien aus ihren Häusern fliehen, kann es leicht passieren, dass sie auf der Suche nach Sicherheit ihren Rollstuhl zurücklassen. Aber da Taha seine Gehhilfe beherrscht und sich selbständig fortbewegen kann, ist das Risiko, dass er es nicht rechtzeitig in einen Schutzraum schafft oder tagelang bewegungsunfähig festsitzt, während der Konflikt weitergeht, wesentlich geringer.
Flüchtlingskinder mit Behinderungen wie Taha sind mit den größten Herausforderungen konfrontiert, denen sich ein Kind je stellen kann. Aber Taha weigert sich, angesichts dieser Herausforderungen aufzugeben. Er ist selbstbewusst, unabhängig und freut sich zum ersten Mal in seinem Leben auf die Zukunft.
"Ich möchte mich weiter bewegen. Ich kann ohne Hindernisse mit meinen Freunden spielen, und ich kann die Treppe hinauf- und hinuntergehen, was ich vorher noch nie getan habe", sagt er und ist gespannt auf die Zukunft.